Gratüberschreitung via Hintergrat

Region: Ortleralpen

Technische Daten: AD(ZS), 40° Firn, Kletterei bis IV UIAA,

benötigte Zeit:
Hüttenzustieg 1h 50 min, Hintergrathütte bis Gipfel 6h, Abstieg bis Sulden 7h mit 45min Rast an der Payerhütte und einem Verhauer am Lombardibiwak. Dazu später mehr
Zustieg Hintergrathütte 5,7km und 820hm, Gipfeltag 22,5km und 1450hm.

"Großartige alpine Überschreitung des Ortlergipfels - eine der ganz großen Touren in den Ostalpen! Man steigt auf dem langen Hintergrat auf den Paradeeisriesen und auf dem Normalweg - vorbei an der Payerhütte - ab. Hat man aber die Hauptschwierigkeiten im letzten Drittel des Grates geschafft, steht man auf dem fast 4000 Meter hohen Ortlergipfel und kann den fantastischen Ausblick auf die umliegende Bergwelt genießen. Der nicht ganz einfache Abstieg auf dem Normalweg setzt dieser Überschreitung die Krone auf. Der Hintergrat ist ein echter Klassiker und wird im selben Atemzug mit Hörnligrat, Biancograt, Große Zinne - Normalweg und Stüdlgrat genannt."

Das sagt also Bergsteigen.com. Kann ich so auch bestätigen. Nach dem Biancograt im Juli sollte es jetzt Ende August also auf die nächste ganz große Ostalpentour gehen. Dabei war eigentlich eine Westalpentour geplant an dem Wochenende, aber mal wieder macht einem das unsichere Wetter in den Alpen einen Strich durch die Rechnung..

Das wäre uns auch fast hier auf der Tour passiert, nachdem der Wetterbericht am Donnerstag noch für Samstag Niederschlag und für Sonntag nur noch 4 Sonnenstunden vorhersagte. Er sollte aber glücklicherweise nicht recht behalten. Mit Oli und Sybille hatte ich 2 konditionell sehr starke Tourenpartner gefunden, die von meiner Stärke im Klettern auf der Tour profitieren durften. Das muss ich schon vorab hier sagen: Unser Team war sehr homogen, jeder hatte seine Stärken, die er einbringen konnte, und es war ein absoluter Genuss. Alles hat schön harmoniert. Genau so stelle ich mir eine gute Seilschaft vor.

Als wir am Samstag, dem Stau am Fernpass sei Dank den Weg übers Hahntenjoch nach Sulden antraten, waren wir alle gut drauf und hatten eine problemlose Fahrt. Genauso problemlos fand dann der Aufstieg zur Hintergrathütte statt. Dieser schlängelt sich hübsch durch den Wald hoch zum K2 Lift, vorbei an skurrilen Holzstatuen. Etwa um 19 Uhr kamen wir, leicht zu spät, zum Abendessen auf der Hintergrathütte an, während gegenüber die imposante Königsspitze sich obenrum in den Wolken bedeckt hielt und bedrohlich im See neben der Hütte spiegelte. Nicht so bedrohlich waren die Spaghetti Bolognese auf der Hütte, gefolgt von einem sehr bequemen Bett. Ich glaube ich hatte noch nie so ein bequemes Bett auf einer Hütte. Gut geschlafen habe ich dennoch nicht.

Als dann um 3:15 Uhr der Wecker ging waren wir alles andere als ausgeschlafen, aber hilft ja alles nichts. Die Vinschgauer beim Frühstück sorgten mit dem Kaffee für Stärkung und Erweckung der Lebensgeister, bevor es dann um 4:15 Uhr raus in die Dunkelheit aufs Schuttfeld hoch Richtung Hintergrat ging. Die Devise war, der Lichterkette zu folgen, was bis zum Grat dann auch gut ging.

Als wir die erste 2er Kletterei, die Verschneidung hoch zum Grat, hinter uns ließen, stiegen wir auch aus dem Nebelmeer aus. Erstmals hatten wir bombastische Sicht und eine tolle Stimmung morgens. Angekommen am ersten Eisfeld schaffte es die Sonne pünktlich zur ersten kurzen Steigeisen-Anzieh-Pause über die Wolkendecke, um mit einem "Servus" die Königsspitze Nordwand und unseren kompletten Gratverlauf am Hintergrat in ein gigantisch leuchtendes Orange zu tauchen. Einer der schönsten Sonnenaufgänge, die ich in den Alpen erleben durfte!

Also ging es mit Sonne im Rücken und Steigeisen an den Füßen das erste Eisfeld hoch, um dann im leichtem Kraxelgelände die Steigeisen wieder im Rucksack zu verstauen. Das Gelände ist nie schwer, und immer schön zu gehen. Links von uns die Königsspitze, rechts der weite Blick ins Vinschgau bis zum Reschensee, bis wir dann das erste Mal Stau haben. Ein Stand an einem Ring, das klingt laut Topo nach der ersten 3er Stelle direkt neben dem Signalkopf. Also das erste mal das Seil aus dem Rucksack holen, im 3. Schwierigkeitsgrad abklettern und links am Signalkopf, der mit 3725m als eigenständiger Gipfel gilt, vorbei gehen. Ich stieg vor, und clippte die Expressschlingen in die dafür vorgesehenen Schlaghaken ein, um Sybille und Oli zu sichern. An der Stelle fühlt man das erste mal etwas die Ausgesetztheit, geht es doch links vom Signalkopf für mehrere hundert Meter steil runter. Ein blick rüber zur Königsspitze, als dort ein Felssturz runterdonnert.

Wenn man am Signalkopf vorbeigeht und sich umdreht, bekommt man das Wahrzeichen des Ortler Hintergrates zu sehen. Habe ich Grat gesagt? Ja, denn hier hat man das erste mal das Gefühl, wirklich auf einem Grat zu sein. Davor war es eher eine Mischung aus Schutthaufen und Rücken. Jetzt ist erstmals etwas schmaler und der Gleichgewichtssinn darf auch aktiviert werden. genauso wie auch die ersten Muskeln fürs Klettern aufgeweckt werden müssen. Denn Nach der 3er Querung des Signalkopfes und dem obligatorischen Blick zurück folgt auch schon die Schlüsselstelle der Tour, der abgespeckte 4er.

Als jemand, der auf der Schwäbischen Alb mit dem Klettern groß geworden ist, bin ich ja abgespecktes Klettern gewohnt, aber das war so glatt, als wäre es feinster Italienischer Marmor. dazu noch nach links abdrängend, so dass ich die Stelle mit wenig Ambitionen, die Kette oben nicht zu greifen, nur die ersten paar Züge frei geklettert bin. Hier ist nicht die richtige Situation, Freikletterkünste unter Beweis zu stellen, sondern hier ist schnelles Vorwärtskommen gefragt. Ich holte Sybille und Oli nach, und souverän ging es die nächste 3er Stelle, einen Risskamin hoch, der auf den ersten Blick gruseliger aussieht, als er es ist. Super Griffe und Tritte, aber steil ging es durch ihn hindurch. Und schon standen wir vor dem 2. Eisfeld. Von diesem wurde, mit seinen 35-40° Steilheit, vor einigen Tagen in der Facebook Gruppe "Alpine auskunft, aktuelle Bedingungen" abgeraten, da es noch blank war. Uns hingegen spielte der Niederschlag vom Freitag in die Karten, der eine dünne, aber hilfreiche Schneedecke hinterließ. So mussten wir das Eisfeld nicht umgehen und konnten ganz entspannt auf den Frontzacken dort hoch gehen. 2000m unter uns sahen wir Sulden. Was für ein schöner Tiefblick!

Nach diesem Eisfeld spielte sich etwas vor unseren Augen ab, das ich selbst kaum glauben konnte. So kletterte die Italienische 2er-Seilschaft vor uns, welche auch mit uns im Zimmer genächtigt hat, mit einer ganz seltsamen Sicherungstechnik. Ich taufe sie mal die "Hundeleine". Denn im Falle eines Sturzes eines kleinen Hundes, hätte der "Sichernde" den Sturz vielleicht noch halten können. In dem Fall hier ganz bestimmt nicht. Fixpunkte, Schlingen, oder das Führen des Seils um Felsblöcke wurde gekonnt ignoriert. Naja. Über das Thema Sicherheit muss ich ja nichts sagen.. Außer, dass ich auch hier ankündige, dass es hier auf der Homepage bald einen Newsletter zu abonnieren gibt. Seid gespannt!

Die nächste IVer Kletterei stand nun an. Diese fühlte sich deutlich leichter an als die erste. Erst ging es über eine Platte, und dann einen kleinen Bauch hoch zu einem Kopfelstand an einer Felsspitze. Auch hier holte ich Sybille und Oli nach, und drehte mich um, und sah den Gipfel praktisch direkt vor uns. die letzten leichteren Klettermeter vergingen bei dem tollen Wetter wie im Flug, und so standen wir nach 6 Stunden am Gipfel des Ortlers. Das viele Sichern und das Klettern als 3er Seilschaft kosteten eben Zeit. Aber die Devise ist: Better safe than sorry! Am Gipfel legten wir eine etwas längere Pause ein und genossen die Weitsicht bei dem grandiosen stabilen Wetter.

Dann ging es auch schon in flottem Schritt den Oberen Ortlerferner abwärts, bis der Flotte Schritt gebremst wurde von... Spalten. Und was für Spalten! Ich war ja vor 2 Jahren schon mal über den Normalweg am Ortler, das aber ende Juni, als alle Spalten zu waren. Was sich hier vor uns auftat waren Löcher und Risse so tief wie Hochhäuser. Eine Stelle wurde durch einen Abseilfixpunkt und eine Leiter entschärft.

Es galt, der gut ausgetretenen Spur zu folgen, bis wir am Bärenloch und dem Lombardi Biwak ankamen. Das Bärenloch über den Gletscher absteigen ging nicht, da der gletscher komplett blank war. Also musste abgeseilt werden. Nur wo ist der Abseilstand? Das fragten sich auch 5 andere Seilschaften, die um das Biwak herumirrten. nach einigem Suchen fanden wir ihn, und hier kamen wieder unsere Spezialitaliener in den Genuss, argwöhnisch beobachtet zu werden. Abseilen ohne Prusik? Aiaiai...

Die übrigen Seilschaften taten sich zusammen, einer lieh allen ein 60m Seil um dort abzuseilen, ich opferte einen Karabiner von mir, damit es einen metallenen Fixpunkt gab, und nicht direkt Seil-auf-Seil abgeseilt werden musste.

Nach einem Kurzen Labyrinth auf dem Gletscher konnten wir endlich final die Steigeisen ablegen und auf den Seilversicherten Steig wechseln, der uns auf den Grat zwischen Taberettaspitze und Ortlerferner führte. Auch hier muss die Konzentration lange oben gehalten werden, so mussten einige Ier und IIer Stellen abgeklettert werden, und durch einen Irrgarten von Rinnen und Wegen ging es dann stetig der Payerhütte entgegen. Hier die große Erleichterung: Bergstiefel gegen Trailrunner tauschen und ein kühles Alkoholfreies Bier sowie Cola, um die Zuckerspeicher etwas aufzufüllen.

Ab hier sind es nur noch etwas unter 2 Stunden bis nach Sulden auf den Parkplatz. Wir umarmen uns und sind stolz auf die lange anspruchsvolle Tour, die wir nun geschafft haben. Die Fußsohlen tun weh, der Muskelkater wartet zuhause, also nichts wie ins Auto und ab gehts. Nachts um 2 komme ich zuhause an und hatte somit einen 23h Tag hinter mir. Der Muskelkater besteht noch, wird aber verfliegen. Das grandiose Wochenende wird aber unvergessen bleiben!

Danke an Sybille und Oli für die tolle Tour!

© 2021 Patrick Wörner

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